Rechtzeitig zum „Israelsonntag“ erschien in der theologischen Zeitschrift „PublikForum“ ein sehr interessantes Gespräch zum Verhältnis Judentum/Christentum zwischen dem Schweizer Jesuiten und Judaisten Christian Rutishauser und dem Berliner Systematiker Notger Slenczka.»Christentum ist Judentum für Nicht-Juden«Wer war Jesus und was wollte er? Und welche Bedeutung hat das Alte Testament für Christen? Ein Streitgespräch zwischen den Theologen Notger Slenczka und Christian Rutishauser Publik-Forum: Herr Slenczka, Herr Rutishauser, unstrittig ist, dass Jesus Jude war und keine neue Religion gründen wollte. Müssten die Christen daher nicht die Hoheitstitel für Jesus Christus korrigieren? Notger Slenczka: Die christologische Frage kann in der Tat nicht gelöst werden, indem man nach dem Selbstbewusstsein Jesu fragt. Aber zu einer historischen Person gehört auch die Wirkung auf andere. Und die Wirkung Jesu auf andere besteht darin, dass Menschen in ihm eine Gotteserfahrung machen. Diese Gotteserfahrung haben sie dann im jüdischen Kontext zu beschreiben versucht. Die Dogmen zur Dreifaltigkeit und zur Person Jesu aus dem 4. und 5. Jahrhundert sind weitere Auslegungen dieser Erfahrung. Christian Rutishauser: Entscheidend ist die Deutung von Tod und Auferstehung durch Paulus. Das Christentum baut auf der Oster-Erfahrung der Auferstehung und der Pfingst-Erfahrung einer Geistsendung auf, wie immer man sich dies vorstellen mag. Diese Ereignisse haben so stark in die Geschichte hineingewirkt, dass sie zur Grundlage einer neuen Tradition werden konnten. Daher kann man das Christentum nicht allein am historischen Jesus festmachen. Der Bruch entsteht nicht durch ihn. Slenczka: Auch die Apostel wollten nicht den Bruch mit dem Judentum. Paulus ist ja nicht konvertiert, sondern hat sein Christ-Sein als Jude-Sein verstanden. Der Streit mit seinen Gegnern ging ja nicht darum, ob man lieber Jude oder Christ ist. Die Streitfrage lautete: Was heißt es eigentlich, Jude zu sein? Paulus behauptet, dass man genau dann Jude ist, wenn man an Jesus Christus glaubt. Und genau das ist eine Zumutung für jeden Juden. Rutishauser: Christentum ist Judentum für Nicht-Juden. Paulus hofft, dass alle dazugehören, das heißt, dass Juden messianisch werden und Griechen sich durch Christus dem messianischen Judentum anschließen. Gleichzeitig sieht er, dass nicht alle mitziehen. Letztlich läuft dieser Universalismus auf die Frage hinaus: Wer ist gottesfürchtig und wer nicht? Würden Sie sagen, dass die Gottesvorstellung im Alten Testament substanziell eine andere ist als im Neuen Testament – oder zeigt sich darin der gleiche Gott? Slenczka: Ich würde sagen, das Gottesbild hat sich mit der Verkündigung der Jünger Jesu substanziell gewandelt. Schon sehr früh haben die Christen den alttestamentlichen Gottestitel »kyrios« (Herr) auf Jesus von Nazareth angewendet. Sie sprachen von ihm als dem »Logos«, also von einer Inkarnation des Schöpfungswortes, das am Anfang war. Das bedeutet: Zum Wesen Gottes gehört die Lebensgeschichte Jesu. Dieser Anspruch, den Paulus, Johannes und andere erheben, ist hochgradig anstößig. Denn es kommt unter dem Vorzeichen der Kontinuität – es ist hier wie da derselbe Gott – zu einer radikalen Neubestimmung dessen, was im Alten Testament Gott heißt. Der Anspruch der Christen ist dieser: wir haben verstanden, dass der Gott, der im Alten Testament spricht, der in Christus offenbare Gott ist. Rutishauser: Es gibt nicht »die« Gottesvorstellung des Alten Testaments oder »die« Gottesvorstellung des Neuen Testaments. Wir finden eine große Bandbreite der Gottesbilder in beiden Testamenten. Das Motiv des liebenden Gottes ist zum Beispiel radikal im Alten Testament verortet. Da gibt es keinen Bruch. Daher haben auch jüdische Forscher wie Leo Baeck, David Flusser und andere die Texte des Neuen Testaments als Glaubenszeugnis der jüdisch-messianischen Geschichte anerkennen können. Davon zu unterscheiden ist, dass diese Texte in den Kanon der Bibel aufgenommen wurden. Die Unterschiede in der Gottesvorstellung entstehen erst bei den Konzilien in der Spätantike. Ab wann wird Jesus exklusiv als Sohn Gottes verstanden? Slenczka: Das kommt darauf an, was man unter »Sohn Gottes« versteht, denn dieser Titel ist vieldeutig. Aber schon sehr früh sind Christen der Meinung, dass man nicht von Gott reden kann, ohne zugleich von Jesus Christus zu reden. Der Philipper-Hymnus, in dem Paulus Jesus von Nazareth als den Träger des Gottesnamens bezeichnet, ist schon zur Abfassungszeit des Philipperbriefes (um 60 nach Christus) ein Traditionsstück, das Paulus übernommen hat und nicht als Neuerung betrachtet. Das heißt: Schon zur Zeit der Bekehrung des Paulus dürften solche Identifikationen – in Christus kommt heraus, wer Gott ist – in den hellenistischen christlichen Gemeinden verbreitet gewesen sein. Wir sind damit in den ersten fünf bis zehn Jahren nach dem Tod Jesu. Rutishauser: In den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass wir das spätere Christentum wie auch das rabbinische Judentum in die Zeit Jesu hineinprojizieren. Das Judentum war vielfältig. Im Buch Daniel wird zum Beispiel von einem Menschensohn gesprochen, der übermenschliche Züge aufweist. In Kapitel 7 wird von zwei Gottheiten gesprochen. Der Jude Philo von Alexandrien wiederum musste zwischen jenseitigem Gott und seiner Gegenwart in dieser Welt unterscheiden. Dabei sprach er vom Logos, von der Weisheit. Das hellenisierte Judentum stellte sich der Gottesfrage in philosophischen Kategorien und versuchte, zwischen Gott im Himmel und auf Erden zu vermitteln. Diese jüdische Tradition war für die Interpretation Jesu als Sohn Gottes formgebend. Jüdisches und Christliches, wie wir es in der Spätantike dann kennen, hat sich je aneinander geformt. Trotzdem haben die Christen aus Jesus eine religiöse Stifterfigur gemacht, die er gar nicht sein wollte. Rutishauser: Wer hat denn aus Jesus eine Stifterfigur gemacht? Das war die liberale evangelische Theologie des 19. Jahrhunderts! Jesus als Religionsstifter ist ein Konstrukt, das mit der modernen Vorstellung von Persönlichkeit und Individualismus einhergeht. Auch Paulus ist keiner. Dann ist Jesus Christus gar nicht die zentrale Offenbarungsgestalt? Rutishauser: Das will ich nicht bestreiten. Aber ich kann Christus nicht so isoliert sehen. Gott wirkt seit Abraham durch viele Propheten, Männer und Frauen, durch Christus, Paulus, die Apostel. Slenczka: Problematisch ist doch gerade der Kontinuitätsanspruch der Christen. Die Aussage: Uns begegnet Gott in Christus ist so lange unproblematisch, solange nicht behauptet wird: Uns begegnet der alttestamentliche Gott, von dem Israel spricht, in Jesus Christus, und der alttestamentliche Gott ist genau derjenige, der in Christus erscheint. Dieser Anspruch ist eine brutale Enterbung. Rutishauser: Warum soll das brutal sein? Es ist historisch gewachsen. Wenn ich eine geistige Kontinuität behaupte, ist das außerdem keine ethnische Enterbung, sondern eine Möglichkeit, die Geschichte weiterzuschreiben. Die vatikanischen Dokumente sprechen daher von zwei legitimen Auslegungstraditionen und vom »reichen gemeinsamen Erbe«, das Juden und Christen teilen. Slenczka: Das Grundproblem im christlich-jüdischen Dialog besteht doch darin, dass die Christen behaupten, sie erst hätten das Alte Testament richtig verstanden: es weise in seinem Wortsinn auf Christus hin. Das ist eine klassische Enterbung. Wenn Luther in seiner antijüdischen Schrift von 1543 sagt, dass der Talmud verbrannt und Synagogen zerstört werden müssten, tut er dies im Anschluss an eine lange christologische Auslegung des Alten Testaments, die er in diesem Text zuvor bietet und die er als den eigentlichen Sinn des Alten Testaments betrachtet. Sein Antisemitismus ist quasi die Schlussfolgerung aus seinen Überlegungen, weil Luther sagt: Die Juden bestreiten diese christologische Auslegung des Alten Testaments, daher müssen sie weg. Mit meinem Widerspruch gegen die Kanonizität des Alten Testaments geht es mir um den Widerspruch gegen diese Vereinnahmung. Rutishauser: Sie wollen Luther korrigieren und opfern das Alte Testament. Unglaublich! Da kann ein Katholik nicht mit. Sie retten die Juden nicht, indem sie ein Bein des Christentums amputieren. Slenczka: Nicht ich korrigiere Luther. Das tun mit mir die Kirchen, die aus Respekt vor dem Judentum nicht mehr bereit sind, das Alte Testament im Wortsinn als Medium der Verkündigung Jesu Christi zu betrachten. Als Zeugnis für Christus haben es alle Kirchen bis ins 20. Jahrhundert hinein gelesen, und das war die Grundlage dafür, dass es in der Kirche kanonische Geltung hat. Aber damit opfere ich das Alte Testament nicht, sondern ich frage danach, welchen Ort und Rang es in der Kirche hat, wenn wir es nicht, wie das Neue Testament, als Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus betrachten. Das heißt ja nicht, dass es in der Kirche nicht mehr gelesen oder dass nicht mehr darüber gepredigt wird. Aber es wird anders ausgelegt als in den Jahrtausenden zuvor. Es sagt nicht dasselbe wie das Neue Testament und hat daher eine andere normative Bedeutung in der Kirche. Was bedeutet es für das Christentum, dass Jesus Jude war? Hätte Gott sich auch in einen Phönizier oder in einen Ägypter inkarnieren können? Rutishauser: Wir müssen Jesus sowohl historisch als auch im Glauben denken. Und das gleichzeitig. Wenn wir den jüdischen Jesus vom Alten Testament entkoppeln würden, so wie ich das bei Ihnen, Herr Slenczka, heraushöre, dann könnte man den Inkarnationsgedanken tatsächlich analog zum Hinduismus denken: Gott zeigt sich in Shiva, Gott zeigt sich in dieser oder jener Person … Einerseits wäre die Heilsgeschichte als Ganzes, angefangen mit Abraham, keine Heilsgeschichte mehr. Andererseits wäre Inkarnation ein zeitloses, mythologisches Konzept, um Transzendenz mit der Immanenz zu verbinden. Das Geistige verbindet sich mit der Materie beliebig, überall und immer anwendbar. Dann aber geht der Wert der Geschichte, in der der Mensch mitentscheidet, sein Ja gibt, verloren; auch der Wert des Partikularen, der Einzigartigkeit. Slenczka: Ich bestreite ja nicht, dass Jesus Jude war. Er war beschnitten und hat sich an alle Gebote gehalten. Dass er das Gebot Gottes erfüllt hat, ist auch für uns Christen relevant. Aber ist das Jude-Sein Jesu dahingehend konstitutiv für uns, dass wir uns beschneiden lassen oder die Reinheitsgebote einhalten müssen? Da würde vermutlich jeder Christ sagen: Nein. An dieser Stelle findet ein Bruch statt, und den hat Paulus erstmals formuliert. Und der Bruch liegt nicht im Selbstverständnis Jesu begründet, sondern in der Art und Weise, wie wir uns auf der Basis dieser Person selbst verstehen. Denn wir verstehen uns eben nicht im religiösen Sinne als Juden. Das heißt nicht, dass es etwas Besseres wäre, sondern nur, dass es etwas Anderes ist. Ist das nicht immer das gleiche Muster in der Religionsgeschichte: Es kommt etwas Neues, das sich als Überbietung oder Vollendung des Alten versteht – und das Alte wird abgewertet, schlecht gemacht oder relativiert. Nach dem Christentum entsteht der Islam, der sich ja auch als Überbietung des Christentums versteht. Ist es also sinnvoll, auf der Basis von Verheißung und Erfüllung religiöse Aussagen zu treffen? Slenczka: Dieses Problem tritt immer auf, wenn Religionsgemeinschaften aufeinander aufbauen oder auseinander hervorgehen. Dann sieht sich die jeweils zeitlich spätere Stufe als Fortsetzung oder Aufklärung der Vergangenheit, nach dem Motto: Wir sagen euch, was mit den Texten der Vergangenheit eigentlich gemeint ist. Rutishauser: Das passiert, wenn die Nachfolgenden sich als etwas Besseres fühlen und Positionen vertreten, die die anderen ausschließen. Außerdem ist die Vorstellung, das Neue sei automatisch das Bessere, eine typische Engführung der Moderne. In der Antike ist das Alte das Wertvollere gewesen. Lineares Fortschrittsdenken ist immer narzisstisch, weil die Gegenwart immer das Beste ist. Eine solche Linearität kennt das biblische Zeitverständnis nicht. Ein heutiges postmodernes Denken kann die Vernetzung viel besser herausarbeiten. Wie könnte man die Spannung von Verheißung und Erfüllung auflösen? Rutishauser: Durch ein mystisches und spirituelles Denken. Auch das wurde ja systematisch verdrängt. Slenczka: Trotzdem kommt man aus diesem Fortschrittsmodell nicht heraus! Das Christentum hat sich von Anfang an als Fortschreibung einer alttestamentlichen Tradition verstanden. Die Christen haben sich bewusst in einen Geschichtszusammenhang gestellt und einen Überbietungsanspruch erhoben. Im Übrigen ist die Vorstellung, dass das Neue besser sei als das Alte, keine Erfindung der Moderne. Das behauptet schon Paulus. Grundsätzlich gilt: Es gibt überhaupt keine Gegenwartserfahrung, ohne dass wir sie geschichtlich einordnen und als Fortschritt oder als Rückschritt werten. Rutishauser: Wenn das, was Paulus »neu« entdeckt, eine Ausweitung des Jüdischen ist und in einen Universalismus mündet, kann man nicht einfach von einer Überbietung sprechen. Und wenn wir die Breite des Judentums anschauen und die Breite des Katholizismus, dann sehen wir viel mehr Gemeinsamkeiten. Jesus Christus ist eine Figur, die trennt, aber auch verbindet. Geht es im Letzten darum, an Jesus zu glauben oder wie Jesus zu glauben? Slenczka: Ich würde sagen, das ist kein Unterschied. Der Theologe Schleiermacher deutet Glauben ja als das Aufgenommenwerden in das Gottesverhältnis des Jesus von Nazareth. Wir glauben wie er, sind uns also unserer schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott bewusst, aber wir sind das eben in Bezug auf Jesus. Rutishauser: Auch ich möchte das nicht gegeneinander ausspielen. Steht Jesus Christus für ein neues Gott-Mensch-Verhältnis oder dafür, dass Christen durch ihn Zugang zur Gottesverheißung des jüdischen Volkes bekommen? Slenczka: Die mittlerweile seit den 1970er-Jahren typisch protestantische Position lautet: Durch Jesus haben Christen Zugang zur Gottesverheißung des jüdischen Volkes. Aber ich empfinde das als übergriffig. Mir kommt das so vor, als würde man mit ungeputzten Schuhen (also unter Missachtung der Reinheitsvorschriften) in das Wohnzimmer eines anderen treten und sagen: Leute, die Hälfte vom Wohnzimmer gehört mir. Das geht nicht. Denn das ist eine – wenngleich mit den besten Absichten formulierte – antijudaistische Position. Rutishauser: Das Judentum hat eine universale Mission, Licht für alle Völker zu sein. Vielleicht hat es diese Aufgabe etwas anders verstanden, doch, um am Bild der Wohnung anzuknüpfen: Im Garten seines Hauses wird nun ein zweites Haus gebaut. Es muss sich damit abfinden, dass andere auch Zugang zu diesem Gott haben, wie sich die Christen damit abfinden müssen, dass auch säkulare Menschen, die nichts mit Christus zu tun haben, von Gott geliebte Geschöpfe sind. Dass anderen etwas gegeben wird, ohne dass sich die Besitzer beraubt fühlen, ist eine Grundfigur des Glaubens. Licht, das geteilt wird, wird nicht geringer. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matthäusevangelium 20) heißt es: »Bist du neidisch, weil ich zu anderen gütig bin?« Ich weiß, dass ich eine Zumutung für das Judentum bin, wenn ich sage, Gott hat auch mit uns Christen einen Bund geschlossen beziehungsweise wir gehören zu eurem Bund. Aber ich glaube: Dialog und Auseinandersetzung ist gewollt. Slenczka: Das gilt ja generell für das Verhältnis der Religionen. Wir müssen lernen, konfliktfähig zu sein und Differenzen auszuhalten, ohne gewalttätig zu werden. Hans Küngs These »Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden« verkennt das Wesen einer pluralistischen Gesellschaft. Das Großartige einer westlichen Gesellschaft im Allgemeinen besteht doch in dem Anspruch, friedlich zusammenzuleben, obwohl wir uns religiös und weltanschaulich nicht einig sind. Das Gespräch führten Michael Schrom und Viola Rüdele vor der Corona-Pandemie
Notger Slenczka ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Christian Rutishauser ist Provinzial der Schweizer Jesuiten, promovierter Judaist, Berater für jüdisch-katholische Beziehungen der Deutschen und Schweizer Bischofskonferenz sowie des Heiligen Stuhls, mitverantwortlich für den Interreligiösen Lehrgang des Lassalle-Hauses (www.lassalle-haus.org/de/spirituelle-theologie.html). 
|